Ich scheue mich, es ihnen ins Gesicht zu sagen, aber sie haben sich verändert. Wenn ich sie früher besuchte, sprachen wir über alles, nur nicht über Krankheiten. Die hatten wir nicht oder sie spielten keine Rolle, weil die Lebensfreude einfach dominanter war. Heute liegen bei ihnen Salben und Säfte herum, in den Schubladen wimmelt es von Medikamenten und auf der Vitrine, wo früher der Aschenbecher stand, steht jetzt das Blutdruckmessgerät. Sie lesen mir ihre neuesten Blutwerte vor, wir sichten Röntgenaufnahmen und EKGs, blättern in ihren Rezept-Sammelalben und reden ausgiebig über Knochendichte und spröde Gelenke. Ich weiß nun auch endlich, was sie nicht mehr essen und trinken oder vergessen und zu welchem Arzt sie gerne oder weniger gerne gehen. Sie konkurrieren förmlich miteinander. Prahlt er mit seiner Arteriosklerose, wirft sie ihre Osteoporose in den Ring, gibt sie stolz an, vier Mal nachts auf die Toilette zu gehen, geht er fünf Mal. Sie zeigen mir dann ihre neuesten Beckenbodenübungen und was man alles gegen Verstopfung tun kann. Er brüstet sich mit seinen Rückenübungen und seinen dreißig Liegestützen. Wir sehen gemeinsam Videos von ihren liebsten Physiotherapeuten und über das Wunder der Nahrungsergänzungsmittel. Habe ich endlich alles über ihren Gesundheitszustand erfahren, gehen wir die neuesten Herzinfarkte, Hirnschläge und Schlaganfälle in ihrem Umfeld und Bekanntenkreis durch. In der sind auch immer zwei oder drei völlig unerwartete Todesfälle dabei. Meinen zaghaften Versuch, ihnen von meinem steifen Nacken zu erzählen, kontern sie mit ihren kaputten Hüften. Am Ende meines Besuches spazieren wir immer noch ein bisschen über den nahegelegenen Friedhof und besichtigen ihre zukünftige Grabstelle. Letztes Mal baten sie mich um Beratung in Sachen Inschrift. Ich schlug ihnen »Ohne Beschwerden« vor. Sie wollten das noch mit ihrem Sterbeberater diskutieren.